Wie sehr man sich doch täuschen kann…
Von 1992 bis 1994 habe ich 2 1/2 Jahre mit meinen Eltern in Ruanda in Ostafrika gelebt. Bis zu dem Zeitpunkt, als der Völkermord im April 1994 begann.
Das ist ein ganz dunkles Kapitel in der neueren Geschichte dieses kleinen afrikanischen Landes, gerademal so groß wie Rheinland-Pfalz. Man nennt es auch das Land der tausend Hügel.
Damals ist so unfassbar viel Leid passiert. Was die meisten nur über die Nachrichten von der gemütlichen Couch aus mehr oder weniger verfolgt haben, hat mich – zumindest in den ersten Tagen dieses Genozids – tatsächlich selbst betroffen. Wenn auch bei weitem nicht in dem Maße, wie die armen Menschen des Landes. Dennoch bin auch ich von dem Erlebten traumatisiert.
Damals in Ruanda
Ich stehe mit meinen Eltern in unserem Garten. Walky-Talky in der Hand. Es ist Anfang April des Jahres 1994 und wir leben in Kigali, der Hauptstadt des kleinen Ruanda, mitten in Afrika. Ich bin gerade 16 geworden. Wir lauschen, was die deutsche Botschaft und auch die Amerikaner durchgeben.
Vor wenigen Tagen ist das Flugzeug mitsamt des Präsidenten Habyarimana beim Landeanflug abgeschossen worden. Ich hab’s gesehen. Ich stand gerade am Gartentor meines Freundes als am Nachthimmel dieser Feuerball vom Himmel in Richtung Boden fiel. Die hinter mir versammelten Nachtwächter aus der Nachbarschaft stießen die mir bekannten Laute des Erstaunens in ihrer Landessprache aus “He! Tatawe!”. Auf meine Frage, was das jetzt eben war, kam doch tatsächlich prompt die Antwort “C’est l’avion du président.” – Das ist das Flugzeug des Präsidenten.
Erst viel später erkannte ich, wie dieses geplante Attentat schon im Vorfeld die Runde gemacht zu haben schien.
Die darauffolgenden Tage bricht im Land das Chaos aus. Wir bleiben alle Zuhause. Es wäre viel zu gefährlich, sich auf den Straßen zu bewegen. Dauernd hören wir Schüsse, detonierende Granaten und die abscheulichsten Berichte darüber, wer – vor allem auch aus meiner Klasse bzw. meinem Jahrgang – in der vergangenen Nacht umgebracht wurde. Auf wirklich grässliche Weiße – das in mir anspringende Kopfkino habe ich immer ganz schnell wieder abgestellt.
Ausgangssperre
Totale Schockstarre, Gefühle absoluter Unsicherheit, der Hilflosigkeit und Ausweglosigkeit und sicherlich auch Angst dominieren jeden Tag. Wir sind im Freeze. Wenn unser schwarzes old school Telefon im Flur klingelt, zieht sich alles in mir zusammen. Wer noch? Was ist die nächste schreckliche Nachricht?
Seit mehreren Nächten schlafe ich schon mit meiner Matratze im Flur. Das erscheint mir der sicherste Ort im Haus, da hier keine Granate über die Mauer durch ein Fenster reingeworfen werden kann.
Wir stehen also in unserem Garten unter dem großen Avocadobaum und hören, wie die Amerikaner durchgeben, dass sie einen Friedenskonvoi organisieren, an den sich nicht-Ruander anschließen dürfen, um aus dem Land über die Grenze ins benachbarte Burundi zu gelangen.
Keine Ahnung, warum hier bei meinen Eltern nach dieser Info keine Bewegung zu verzeichnen ist. Schließlich bin ich es, die sagt: “Worauf warten wir? Lasst uns unsere Sachen packen und zum Amerikanischen Club zum Treffpunkt fahren und dann nichts wie weg. Die Chance sollten wir nutzen!”
Sie schauen sich an und dann wird endlich der Entschluss gefasst. Meine Mutter und ich warten am Tor auf das Sichtungsfahrzeug der Amerikaner. Sie fahren die Straßen ab und zählen die Menschen, die vor ihren Häusern mit weißer Fahne stehen und damit bekunden, dass sie sich dem Konvoi am Abend anschließen wollen.
Während wir da warten, spazieren ruandische Nachbarsfrauen an uns vorbei. Sie wundern sich, dass wir als Deutsche das Weite suchen. Sie meinen nur die Belgier hätten etwas zu befürchten. Als ob ein in Rage geratener Mensch mit Rachegelüsten, aufgestachelt und mit ordentlich Wut im Bauch und Machete in der Hand noch lange nachfragt, woher man kommt, bevor er loslegt!
Im Convoi nach Bujumbura
Ich erinnere mich nur noch bruchstückhaft an diesen Abend und die Nacht. Zunächst fahren wir am späten Nachmittag oder frühen Abend zum Sammelpunkt im amerikanischen Club. Dort halten sich auch die Zwillingsbrüder Africa und America versteckt (die heißen wirklich so). Sie können nicht mit uns kommen, wollen vorerst im Club bleiben und bangen um ihre Familien, von denen sie keine Nachricht haben. Es ist ein schlimmes Gefühl von hier wegzufahren und die zwei dort ihrem Schicksal zu überlassen.
Obwohl es aus Sicherheitsgründen streng verboten ist, wissen wir, dass beim Konvoi ein paar Europäer dabei sind, die ihre ruandische Frau und Kinder z.B. in der Sitzbank ihres Transporters mitschmuggeln.
Mein Freund soll bei meinen Eltern und mir im Auto mitfahren, während seine Eltern mit seiner kleinen Schwester im Auto hinter uns fahren. Es erscheint den Eltern sicherer, wenn sie nur mit einem farbigen Kind mit (kanadischem Pass) unterwegs sind als mit zweien.
Sein Vater gibt mir noch die Anweisung, dass ich bei einer Kontrolle nichts sagen soll, weil ich den Daniels Nachnamen womöglich nicht kanadisch genug klingend aussprechen würde und es die Leute womöglich misstrauisch macht.
Der Konvoi setzt sich irgendwann in Gang. Wir fahren extrem langsam und es dauert, bis wir die Stadt Kigali hinter uns lassen. Alle paar hundert Meter sind Straßensperren. Wir werden mehrfach kontrolliert und durchgewunken.
Am Straßenrand sehe ich immer wieder Gruppen von Männern sitzen, mit Gewehren oder Machete. Ich frage mich, was diese Menschen in der vergangenen Nacht wohl angerichtet haben? Wie viel Blut klebt an ihren Händen? Und die wohl gewichtigste Frage: Wie kann man bei sowas Grässlichem nur mitmachen?!?
Schockstarre
An einem der Kontrollpunkte steht ein Mann mit Maschinengewehr auf der rechten Seite unseres Fahrzeugs. Er gibt Daniel ein Zeichen, das Fenster herunter zu kurbeln. Ehe wir uns versehen hat mein Freund die Mündung des Gewehrs an der Schläfe und soll seinen Ausweis zeigen. Zittrige Finger, aschgraue Gesichtsfarbe, pure Angst.
Ich sitze neben ihm, halte die Luft an. Daniel gibt dem Mann seinen Pass. Wenn der Typ abdrückt ist es um uns beide geschehen.
Zu unserer Erleichterung kommt nach etwas Blättern im Pass ein kurzes erlösendes “Okay, go!” und wir können weiterfahren. Schweigen neben mir. Ich sehe nur dieses graue Gesicht meines sonst so witzigen, fröhlichen kanadischen Freundes. Meine Eltern müssen scheinbar die Stille durchbrechen und unterhalten sich. Ich will Daniel erstmal zu sich kommen lassen und spreche ihn vorerst nicht an.
Bujumbura
Irgendwann, nach ich weiß nicht wie vielen Stunden Autofahrt und etlichen Stopps, weil wieder Schüsse fallen und wir als friedlicher Zivilkonvoi aufpassen müssen, kommen wir endlich in Bujumbura, der Hauptstadt des kleinen Nachbarlandes Burundi an. Ich träume schon von einer ruhigen Nacht im sauberen, sicheren Hotel.
Doch dazu kommt es nicht. Die Hotels sind alle ausgebucht. Die vielen internationalen Journalisten haben sich dort einquartiert. Uns wird der Weg zu einer Lagerhalle des Roten Kreuzes gewiesen.
Ich weiß nicht mehr, wann Daniel aus unserem Auto ausgestiegen und bei seinen Eltern eingestiegen ist. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass wir uns richtig verabschiedet hätten. Wir hatten ja auch wirklich gar keine Ahnung, wie es weitergeht…
Nachtlager und ein Handtuch für alle
Angekommen an der Lagerhalle des Roten Kreuzes. Hier erinnere ich mich noch sehr gut an die hergerichteten Matratzen auf dem Boden mit nach Mottenkugeln stinkenden, kratzigen Wolldecken. Es gibt nur eine Dusche für uns – ich schätze mal etwa 40 Leite. Jeder geht sich waschen. Ich habe mir zum Glück auch etwas Wechselkleidung eingepackt. Andere haben nicht einmal ein Handtuch. Keine Ahnung wie viele von uns sich am Ende mit meinem schon triefnassen Handtuch abgetrocknet haben.
An Schlaf ist nicht zu denken und so sitze ich mit meiner Freundin Saskia, die mit ihren Eltern und ihrer Schwester auch im Konvoi mitgefahren ist, mit ein paar Erwachsenen draußen im Hof auf irgendwelchen klapprigen Stühlen. Wir besprechen die Lage. Wir Teenies wollen eine Prognose, für wie lange wir wohl das Land verlassen müssen bzw. wann wir wohl zurück dürfen… In dieser Nacht ahne ich noch gar nicht, dass ich bis zum heutigen Tag nicht zurück kehren werde.
Anstatt in Bujumbura zu bleiben werden wir Deutsche am nächsten Tag mit einer Bundeswehrmaschine nach Deutschland ausgeflogen.
Am Flughafen in Bujumbura treffe ich meine liebe Klassenkameradin Ellen. Uns trennt eine dicke Glasscheibe und ein paar Sicherheitsleute vom Flughafen. Doch sie sind so nett unsere Zettel hin und her zu reichen. So erfahre ich ein paar Neuigkeiten seitens der Belgier und wir können unsere Adressen in Europa austauschen, um in Kontakt zu bleiben.
Auf der Treppe ins Flugzeug erkenne ich auf dem Start- und Landefeld einen weiteren Klassenkameraden. Sebastien ist Franzose und ist gerade aus Kigali angekommen. Ob mein Jerry als Belgier Ruanda bereits verlassen konnte oder noch in Kigali ist, weiß er nicht genau.
Irgendwann hebt diese Bundeswehrmaschine ab und fliegt uns tatsächlich zum Flughafen Köln/Bonn. Überraschenderweise warten dort bereits meine Brüder auf uns. Sie waren gerade unterwegs und haben im Autoradio gehört, dass eine Maschine mit Deutschen aus Ruanda in Köln/Bonn landen wird. Da haben sie nicht lange gezögert und sind auf gut Glück zum Flughafen gefahren.
Zurück in Deutschland
Ich weiß noch, wie uns in der Ankunftshalle ein, zwei Mikros unter die Nase gehalten und ein paar Fragen gestellt werden, welche meine Mutter ziemlich lässig beantwortet. Das hat mich damals beeindruckt. Heute erkenne ich, wie das zu ihrer Strategie gehört hat, mit dieser traumatisierenden Situation der vorangegangenen Tage umzugehen.
Wir sind also nach der Landung mit meinen Brüdern in unser Haus nach Usingen gefahren und waren wieder sicher. Wenige Tage später bin ich zurück in meine alte Klasse am Gymnasium in Usingen gegangen. Zweites Halbjahr elfte Klasse. Leistungskurse wählen. Irgendwie den verpassten Schulstoff nachholen und sich nicht abhängen lassen. Neues Netzwerk an Freunden aufbauen, an alte wieder anknüpfen. Versuchen, Anschluss an bestehende Cliquen zu bekommen.
Manche Lehrer haben anfangs Fragen nach meinen Erlebnissen gestellt. Die Mitschüler hat das eher gelangweilt und sie haben sich abgewandt. Ich habe auch nicht gerade reißerisch im Bild-Stil berichtet. Wollte auch nicht so im Mittelpunkt stehen. Noch dazu hatte ich das selbst noch so gar nicht verarbeitet.
Überhaupt habe ich über die Erlebnisse in Ruanda so gut wie gar nicht gesprochen. Ich wollte es auch nicht, war wahrscheinlich nicht bereit oder stark genug dafür. Auch mit meinen Eltern gab es keine heilsamen Gespräche.
Hallo Trauma!
Wie sich herausgestellt hat, hatte ich es bis im Juni dieses Jahres noch nicht verarbeitet!
Daniel war in Europa und kam zu Besuch. Wir hatten uns schon Jahre nicht mehr gesehen. Es war einfach schön, diesen herzlichen Menschen wiederzusehen. Als wir nachts in einer Vollsperrung auf der Autobahn steckten, hat uns das nochmal ein bisschen Zeit geschenkt, um alte Geschichten auszupacken. Und natürlich haben wir auch über unsere Flucht aus Ruanda gesprochen.
Vor einigen Jahren schon hatte ich einen kleinen Crash, als ich über Facebook ein paar Seiten als Leseprobe aus der Biographie eines ruandischen Schulkameraden Corneille gelesen habe. Seine Geschichte ist echt hart und voller Brutalität und Leid. Soldaten drangen in sein Haus ein und verübten ein Massaker an seiner gesamten Familie: Sie töteten seinen Tutsi-Vater, seine Hutu-Mutter und alle seine Geschwister. Corneille überlebte und lebt heute als erfolgreicher Musiker in Quebec.
Ich habe mich da schon so verdammt privilegiert und so eine riesige, belastende Ungerechtigkeit gefühlt. Wie kann es sein, dass ich sicher das Land verlassen, ausgeflogen und wieder in mein altes Kinderzimmer ziehen und die Schule beenden konnte, während andere meines Alters zusehen mussten, wie ihre Eltern und Geschwister umgebracht werden und sich selbst mit einer schon fast actionfilmreifen Flucht retten und durchschlagen mussten?
Ich hatte gar kein Recht traumatisiert zu sein. Das Leid der anderen war einfach so krass!
Jetzt war also Daniel zu Besuch. Wie sich für mich herausgestellt hat, hatte er das Thema weitaus besser verstoffwechselt als ich. Unsere Unterhaltung kratzte an der Oberfläche und half dabei, dass eine ganz dicke Kruste aufplatzen konnte. Unsere Unterhaltung hallte noch Wochen in mir nach und spülte ENDLICH! diese alte Geschichte wieder an die Oberfläche.
Erkenntnisse und Heilung
Diesmal hatte ich die nötige Seelenstärke, um mir das Erlebte nochmal anzuschauen. Und ich hatte Unterstützung:
Da war zum einen die liebe Susanne, die sich in ihrer Rolle als Konflikt- und Traumatherapeutin meiner angenommen hat. Ich habe Susanne während der Ausbildung zum Resilienz Diät Coach kennengelernt und wir haben in den letzten 12 Monaten eine intensive Verbindung und trostspendende Freundschaft aufgebaut.
Dann war da noch die wunderbare Vio, die als Epigenetik Expertin und Traumatherapeutin einfühlsam zugehört und mich darin unterstützt hat, die Dinge zu benennen und einzuordnen.
Beiden Frauen bin ich sehr, sehr dankbar für ihre liebevolle Unterstützung.
Und natürlich hatte ich auch durch meine gestärkte Resilienz die nötige Kraft, diesem Kapitel in meinem Leben endlich die Beachtung zu schenken, die es verdient hat.
Meine krasseste Erkenntnis überhaupt ist, dass ich selbst ein nicht aufgearbeitetes Trauma in mir trug und vielleicht auch noch trage. Denn – und das ist Erkenntnis Nr. 2 – ein Trauma heilt schichtweise und braucht Zeit.
Gelesen hatte ich schon viel über Traumata. Insbesondere in meiner Weiterbildung zum Thema Epigenetik ist Trauma ein zentrales Element. Dass ich nun selbst ein Trauma in mir trug, das war mir wirklich nicht klar gewesen.
Umso heilsamer und befreiter fühlt es sich jetzt an. Keine Ahnung, ob dieses Thema nochmal so oder ähnlich stark aufploppen wird. Das wird die Zukunft mir zeigen. Ich bin jedenfalls bereit, immer wieder hinzuschauen, zu fühlen und zu transformieren. Bis ich nachhaltig sagen kann: “Jetzt ist es gut.”
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